Eine Trennung fühlt sich an, als hätten wir nicht nur einen geliebten Menschen, sondern tatsächlich einen vitalen Teil von uns selbst verloren. Das hat gute Gründe, und nichts ist falsch mit dir, wenn du so fühlst. Und dennoch: Du bist und bleibst ganz. Du hast nicht deine Flügel verloren, und kannst wieder fliegen lernen.
"Es ist, als hätte man einen lebendigen Teil von mir abgetrennt." Das sagen mir Frauen, die unter dem Schock einer Trennung stehen. Und ich weiss, was sie meinen. Ich kenne dieses Gefühl: Ohne den Andern bin ich nicht mehr ganz, mir wurde etwas von mir selbst genommen.
Nach der Trennung stellst du vielleicht erschüttert fest: Der Andere war so sehr ein Teil von mir, dass du nicht mehr weisst: Was bleibt von mir übrig ohne ihn? Und was übrigbleibt, scheint nicht allein lebensfähig zu sein.
Wir erleben uns als unvollständig - und dadurch als mangelhaft. Und zwar nicht wie ein Vogel, der Federn lassen musste, sondern wie ein Vogel, dem die Flügel gestutzt wurden. So dass es manchmal unmöglich scheint, wieder fliegen zu können.
Vielleicht erschrickst du darüber: Wie konnte es nur soweit kommen? Hattest du dich doch in der Beziehung als stark und selbständig wahrgenommen. Oder aber du hattest schon länger die Befürchtung, den Andern (zu) sehr zu brauchen und fühlst dich jetzt verloren.
Bitte sei dir bewusst: Jeder Mensch fühlt sich nach einer ungewollten Trennung, als hätte er einen Teil von sich selber verloren. Es ist nichts falsch an dir. Das zeigt vielmehr: Du hast dich eingelassen auf diese Beziehung. Und damit auch auf deine Verletzbarkeit, ohne die es kein echtes Sich-Einlassen gibt. Das ist keine Schwäche, das ist eine Fähigkeit.
Diese Gefühl - ohne den Andern bin ich nicht mehr ganz - ist gleichzeitig wie ein Phantomschmerz, nur umgekehrt: Beim Phantomschmerz glauben wir, einen abgetrennten Teil von uns weiterhin zu spüren. Obwohl er nicht mehr da ist (etwa ein verlorenes Bein). Beim Trennungssschmerz glauben wir einen Teil von uns verloren zu haben. Obwohl - davon bin ich überzeugt - alles noch vorhanden ist.
Warum bloss fühlen wir uns dann unvollständig? Weil zu der Fähigkeit, sich einzulassen, auch gehört, dass wir einen Verlust tief empfinden. Wir haben ohne Netz und doppelten Boden gelebt, ohne geheimen Evakuationsplan. Deshalb sind wir erschüttert. Und doch ist es so:
Du bist nach der Trennung nicht "Du minus den Andern". Du bist "Du ohne den Andern". Das bedeutet, du hast deine Flügel nicht verloren. Doch jetzt gilt es, für dich fliegen zu lernen – wieder, oder zum ersten Mal im Leben.
Vielleicht stellst du nun fest, dass du tatsächlich Dinge an den Partner delegiert hattest, etwa dir Sicherheit zu geben oder für dein Glück zu sorgen. Jetzt kannst du entdecken, dass du diese Fähigkeiten selbst entwickeln kannst. Du kannst dich in deiner Ganzheit entdecken.
Der Weg dazu ist, deinen Wert, der immer da war, und es auch jetzt ist, zu erkennen. Dich wertschätzen zu lernen. Wenn du dich ganz anerkennst, wirst du dich in deiner Ganzheit erkennen. Das ist eine Vollkommenheit, für die du keineswegs vollkommen sein musst. Aber dir viele Türen öffnet.
Es ist nicht zynisch gemeint, wenn ich sage: Aus einer so schwierigen Zeit kann eine wertvolle Zeit werden. Es gibt kaum etwas Erfüllenderes, als dich in deiner Ganzheit kennenzulernen. Und zu entdecken, dass du dich auf dich verlassen kannst.
Das ist ein Wow-Erlebnis. Das ist aber auch ein Weg, für den wir aufbrechen und dranbleiben müssen. Er lohnt sich, denn er ist nicht nur ein Weg zu dir, sondern auch ein Weg in neue, starke und erfüllte Beziehungen.
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